Und damit jede einzelne Lebensgeschichte. Denn die anonyme Masse der Flüchtlinge, die uns tagtäglich im Fernsehen und den Zeitungen begegnet, bleibt keine anonyme Masse. In dem Moment, wo wir die Menschen bei uns willkommen heißen, sind sie eben das: Menschen. Mit allem, was dazu gehört.
Wir möchten über eine dieser Lebensgeschichten berichten. Als ein Beispiel von vielen – eben eines der vielen Beispiele, wegen derer wir nicht aufhören werden, weiterhin Geflüchtete willkommen zu heißen.
Sana Ullah wird vor 21 Jahren in Afghanistan geboren. Als er drei Jahre alt ist, geht die Familie nach Pakistan. Die Eltern sehen keine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder in Afghanistan. In Pakistan schafft die Familie es, ein normales Leben zu etablieren. Sana Ullah wächst dort auf, geht zur Schule und schließt diese erfolgreich ab.
Er reist nach Afghanistan, um Verwandtschaft zu besuchen. Ihm wird von einem attraktiven Job berichtet, aber er lehnt ab. Er kennt Afghanistan kaum, hat sein Leben in Pakistan verbracht und möchte ein modernes Leben führen. Er wird von Bekannten bedrängt, den potentiellen Arbeitgeber doch wenigstens mal zu treffen und sich das Angebot anzuhören. Er lenkt ein, verabredet sich.
Das Treffen verändert sein Leben: Er wird mit einer Pistole bedroht, ihm werden die Hände auf den Rücken gefesselt und ein Sack über den Kopf gestülpt. Sana Ullah wird in ein Fahrzeug geworfen und stundenlang durch ihm unbekannte Gegenden Afghanistans gefahren. Die Arbeitgeber sind Terroristen.
Als die Fahrt endet und ihm der Sack vom Kopf genommen wird, befindet er sich in einem Raum mit Computern, Servern und Satelliten-Schüsseln. Er soll Funkverkehr der Amerikaner abhören. Weil er Englisch kann. Sana Ullah weigert sich, was Haft in einem Kellerloch, weitere Schläge und sehr klare Todesdrohungen nach sich zieht. Also willigt er ein. Er hört sich den Funkverkehr an. Er versteht kein Wort. Er hört englische Sprache, jedoch militärisch codiert. Codes, die ohne Kenntnis über die Decodierung nicht weiterhelfen („Alpha calling Gamma, please return x to Beta“). Er teilt den Terroristen mit, dass er nichts versteht. Die Terroristen glauben ihm nicht. Seine letzte Erinnerung ist ein Pistolenknauf.
Als Sana Ullah wieder zu sich kommt, liegt er in einem afghanischen Krankenhaus. Er wurde in der Wüste gefunden, mit zerschmetterten Kniescheiben, ohne Möglichkeit zur Flucht, zum Sterben abgelegt. Ihm fehlen acht Vorderzähne.
Er weiß nicht, wer ihn gefunden hat. Es dauert Tage, bis er seine Sprache wiederfindet. Wochenlang liegt er mit eingegipsten Beinen im Krankenhaus, erholt sich nur langsam. Es ist 2012, Sana Ullah ist 17 Jahre alt.
Er ist wissbegierig und ehrgeizig und möchte seinen Horizont erweitern. Er ergattert ein zweijähriges Visum für Dubai. Dank seiner guten Bildung und sehr guten Englischkenntnissen findet er in Dubai schnell Arbeit. Er arbeitet am Empfang eines 5-Sterne-Hotels, hat eine eigene Wohnung, führt ein gutes, weltoffen orientiertes Leben. Kurz: Sana Ullah geht es gut.
Dann läuft sein Visum ab. Er muss nach Pakistan reisen, um es dort erneut zu beantragen. In Pakistan wird die Bearbeitung verschleppt. Während Sana Ullah auf sein Visum wartet, kommt es zu einem schrecklichen Terroranschlag in Pakistan: Am 16. Dezember 2014 stürmen Kämpfer der islamistischen Tehreek-e-Taliban die Army Public School in Peschawar und töten mehr als 130 Kinder. Als eine der Reaktionen auf dieses Massaker verweist die pakistanische Regierung alle Afghanen des Landes.
Sana Ullah hört erstmals von der Möglichkeit, nach Deutschland zu fliehen. Darüber hat er nie zuvor nachgedacht. Er lebte gerne in Dubai, liebte seinen Job. Nie wollte er nach Europa. Doch nun ist das anders. Er kann und will nicht nach Afghanistan. Er weiß, dass dort der sichere Tod auf ihn wartet. Spätestens, wenn die Terroristen erfahren, dass er überlebt hat.
Er macht sich auf den Weg nach Deutschland. Die Flucht führt ihn von Pakistan in den Iran, weiter in die Türkei, per Boot über das Mittelmeer nach Griechenland. Von dort geht es zu Fuß weiter über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich. Endlich kommt er in Köln an. Er sieht den Dom. Er weiß, er hat es geschafft. Geschafft, zu überleben. Er wird einer Unterkunft im Stadtbezirk Ehrenfeld zugewiesen. Und er wird willkommen geheißen.
Julia Fukuda